Das Leben ist schwer. Von Glaube zu Agnostiker auf dem Jakobsweg
Heute hatte ich einen schwierigen Tag und der past perfekt zu diesem Beitrag, den ich schon seit längerer Zeit schreiben möchte. Mein ganzes Leben war ich ein sehr positiver Mensch. Ich bin immer noch ein positiver Mensch, in dem Sinne, dass ich meistens gute Laune habe und es mir eher schwer fällt mal wütend oder traurig zu sein. Was sich jedoch verändert hat ist meine Einstellung zum Thema Positivität. Dazu muss ich etwas ausholen.
Wie es war
Ich bin katholisch aufgewachsen, jedoch mit Mitte 20 begann ich mich eher für Spiritualität zu interessieren, als für den Glauben mit dem ich aufgewachsen bin. Ich begann Bücher wie „Das Gesetz der Anziehung“ und andere zu lesen, in denen es darum geht, dass man nur positiv Denken muss und dann wird schon alles gut werden im Leben.
Ich will gar nicht alles, was ich auf diesem Weg über positives Denken gelernt habe, in die Tonne hauen. Ich habe immer noch ein Visionen Board mit meinen Zielen und Wünschen und natürlich denke ich, dass es immer besser ist, aufgeschlossen und fröhlich durch das Leben zu gehen. Aber nicht ständig! Und das ist etwas, was sich bei mir total verändert hat. Das Leben ist manchmal schwer! Es ist traurig, man bekommt das Herz gebrochen, es ist anstrengend, man fällt zu Boden, man fühlt sich verloren, man hat Angst, es ist manchmal einfach schwer! Das zu ignorieren macht alles nur noch schlimmer.
Schuldgefühle
Wenn ich denke, dass ich für alles verantwortlich bin, was in meinem Leben passiert und ich nur positiv genug denken muss, dann bauen sich darunter tiefe Angst und Schuldgefühle auf. Ich habe nämlich nicht alles unter Kontrolle und ich kann nicht alles durch positives Denken beeinflussen. Das heißt jedes Mal, wenn ich versuche positiv zu denken und es kommt anders als ich dachte, fühle ich mich tief schuldig, dass ich wieder einen Fehler gemacht habe, dass ich irgend etwas nicht richtig gemacht habe, was nicht unbedingt hilft selbstsicher und gelassen durch das Leben zu gehen.
Egal wo ich heute online schaue, ständig kommen mir Videos oder Beiträge entgegen, mit den Titel: Meine perfekte Morgenroutine, Dankbarkeitsrituale, die schönste Yogainspiration und ganz ehrlich mittlerweile schüttelt es sich. Diese ganze Online Welt ist einfach gefährlich geworden. Überall wird uns Perfektionismus verkauft, aber nicht nur in Bezug auf unser Äußeres, nein auch innerlich muss ich spirituell rein, perfekt und schön sein und um das zu erreichen, muss ich nur die beste Morgen und Dankbarkeitsroutine machen.
Gott?
Bevor ich auf den Jakobsweg gegangen bin, war ich einer „spirituellen Gruppe“. Ich schreibe es bewusst in Anführungszeichen, da es ein lockerer Zusammenschluss von Menschen war. Nicht eine Sekte oder sondern einfach ein paar Frauen, die positiv leben wollten. Ich habe diese Gruppe geliebt und ich konnte mir nie vorstellen, dass es mal anders sein würde.
Auch hatte ich ein ziemlich klares Gottesbild und eine sichere Basis an Glauben und Vertrauen, vielleicht nicht wie ich damals gelernt habe, als ich katholisch aufgewachsen bin, trotzdem war diese höhere Macht etwas anderes für mich. Es war nicht von dieser Welt.
Auf dem Jakobsweg bin ich in einen Konflikt geraten mit einem anderen Pilger, der zunächst traurig und anstrengend war, trotzdem keine große weitere Bedeutung für mich zu haben schien. Der Ärger darüber, dass ich so einen Ärger auf dem Jakobsweg hatte, wo doch der Jakobsweg so rein und perfekt für mich sein sollte, hat etwas in mir ausgelöst. Mein Jakobsweg sollte doch spirituell rein sein und nun war er schmutzig. Zunächst hat mich das extrem traurig gemacht, aber auch wütend. Ich war sauer auf Gott, so wie ich ihn mir vorstellte zu dem Zeitpunkt, dass er mir so eine blöde Situation auf den Jakobsweg geschickt hat. Überall ja! Aber nicht auf den Jakobsweg. Ich musste mich erst mal abwenden.
kein Gott mehr?
Der Jakobsweg war trotzdem toll für mich und trotz der Situation sage ich noch heute, dass dies ein besonderer Weg ist, der irgend etwas mit einem macht, was man nicht beschreiben kann. Dort passiert etwas.
Zu Hause angekommen hatte sich etwas in mir verändert. Ich wollte nicht mehr positiv denken und dann später Schuldgefühle haben, wenn ich nicht positiv genug gedacht habe. Hier sein wollte ich und ok sein wollte ich, als der Mensch, der ich bin, mit positiven Seiten, aber auch mit den negativen Eigenschaften, die ich habe. Ich begann die absolute knallharte Realität zu lieben, den im Gegensatz zu meinen Vorstellungen, gab mir die Realität, wenn auch nicht immer schön eins: Sicherheit
Also packte ich alles in den Schrank: Dankbarkeitstagebuch, inspirierende Bücher, den Kurs in Wundern, alles zum Thema Persönlichkeitsentwicklung, was ich in meiner Wohnung finden konnte.
Von nun an, war ich einfach da…
Von Glaube zu Agnostik. Für alle die nicht wissen, was ein Agnostiker ist: Es bedeutet, dass man nicht weiß, ob es einen Gott gibt oder nicht. Man ist aber kein Atheist, der grundsätzlich nicht an Gott glaubt.
Wow: das klingt hart. Ich habe mit einer meiner Freundinnen viel gelacht darüber. Sie war die einzige zu dem Zeitpunkt, mit der ich darüber sprechen konnte. Alle anderen konnten nicht verstehen, was mit mir los ist.
Mein Freundin lachte: „Das wäre ein Buch, was ich lesen würde: Ich habe meinen Glauben auf dem Jakobsweg verloren und ich fand ihn trotzdem super!“
Ein paar Monate später habe ich mich auf eine lange Tageswanderung gemacht. Da ich mich in der Gegend auskenne und eine Abenteuerlust verspürte, entschied ich mich querfeldein durch den Wald neue Wege zu gehen. Dort passierte etwas in mir. Es kam ein Gefühl in mir hoch, was ich schon zu vor einmal beim Wandern in den Schweizer Alpen empfand:
Die Natur ist meine höhere Macht
Die Natur ist meine höhere Macht und ich bin Teil von ihr. Zuerst empfand ich meine eigenen Empfindungen als schräg. Was ist das denn jetzt schon wieder?
Aber je mehr ich wanderte und je mehr Zeit ich im Wald verbrachte, desto klarer wurde mein neues Bild einer höheren Macht. Hier kann ich alles sein. Die Natur zeigt mir Grenzen, aber keine Regeln. Am Ende bekommen wir Menschen so viel in den Griff, aber die Natur zeigt uns immer Grenzen. Sie zeigt uns, dass wir sie nicht beherrschen, aber das wir ein Teil von ihr sind.
Ich liebe es abzuschalten und einfach zu sein. Ich bin jetzt ein Teil dieses Systems und damit komme ich zurecht. Sie ist wie ist und ich personifiziere nichts und folge irgendwelchen von anderen Menschen gemachten Regelwerke. Hier bin ich ich, wie ich bin, mit Grenzen, aber ohne Vorstellungen. Ich kann beten und mir ihr sprechen, ich kann es aber auch lassen. Das ist real.
Es fällt mir schwer dafür die richtigen Worte zu finden. Was ich am Ende damit sagen möchte, ist, das ich es gerade genieße einfach in der Realität zu sein und die ist nicht eine positive Morgenroutine bei instagram, die ist auch kein Dankbarkeitstagebuch.
Dankbarkeit
Ich bin dankbar und manchmal bin ich es eben auch nicht. Ich finde dass dieses ganze positive Getue online und in eine Parallelwelt, welche nicht realistisch ist. Ständig wird uns geraten, wie wir uns und unser Leben optimieren können. Dabei ist das Leben eins: nicht optimal und es wird es auch nie sein. Es wird immer gute und schlechte Tage geben. Ich werde nett sein und manchmal bin ich sauer. Die Natur lässt mir alle diese Gefühle, denn sie sind menschlich. Und das ist was ich sein möchte, ein Mensch, als Teil der Natur.
Ich weiß nicht, wo mich das Alles hinführen wird. Ich bin ehrlicherweise noch nicht fertig, dass alls zu verarbeiten, was auch zeigt, dass der wirkliche Jakobsweg zu Hause beginnt und das es auch Zeit braucht, diesen zu verarbeiten. Zunächst ist mir das schwer gefallen, aber irgendwann habe ich mich dazu entschieden, dass ich mir dafür jetzt einfach die Zeit nehme.
Es war kein leichter Weg
Mein Jakobsweg war genau wie mein Leben. Er war optimal, genau so wie er war. Jedoch war er auch schwer. Es war kein leichter Weg. Genau so wie das Leben.